matrah مطرح

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Am Freitag wird es spannend: Wir treten aus der Probephase heraus, jetzt geht es an die Arbeit mit den richtigen Stoffen. Die große Übungsmatratze wird also ein weiteres Mal wieder aufgetrennt, das Haar wird zur Seite gelegt und die vier Männer setzen sich an ihre vier Werkstücke. Für alle ist es am großen Arbeitstisch ein bißchen eng und Daniel überlegt, für den folgenden Tag die Gruppe zu teilen. Aber die Gruppe möchte zusammenbleiben. Das ist gutes Zeichen, vor allem weil Hossein, der kein Arabisch und kein Deutsch spricht, offensichtlich gut integriert ist. Mittlerweile kommt er ohne Nazir, seinen Sohn, der ihm übersetzt hat.

Mittags gibt es Hummus und Mohamad erzählt, dass er zuhause die Älpler Makroni – das schweizer Nudel-Käse-Sahne-Butter-Gericht – nachgekocht habe und seine Frau wissen wollte, was er im projekt matrah eigentlich noch alles lerne.

 

Für eines der nächsten Mittagessen sorgen Zakaria und seine Frau: Es gibt Bulgur mit Rindfleisch und Salat. Essen und Trinken, das merken wir alle, ist ebenso förderlich für den viel beschworenen Kulturaustausch wie das gemeinsame Arbeiten. Der kleine Tisch in der Küche wird der zweite Ort der Gruppe. Die Männer erzählen von der Situation in Syrien. Und auch wenn man nicht alles versteht, weil ihr Deutsch dafür nicht ausreicht: Man bekommt eine Ahnung von Terror und Willkür. Zakaria erzählt, dass er in Aleppo zusammen mit anderen Leuten von seiner Straße dafür gesorgt hat, dass die ärmeren Leute aus der Nachbarschaft an Brot kommen. Denn vor der Bäckerei standen bewaffnete Gruppen und haben den Bäcker gezwungen, das Brot zu völlig überteuerten Preisen zu verkaufen. Zakaria hat es mit mutigen Nachbarn irgendwie geschafft, dass die Bäckerei von Staatsbeamten bewacht wurde und das Brot wieder normal verkauft werden konnte. Er erzählt, dass dieser Kampf – nicht nur um das tägliche Brot, sondern auch um Wasser, Strom, Gas – zermürbend sei.

Aber die Gespräche fließen auch in andere Richtungen, es wird viel gelacht. Tareq zeigt Bilder von seinen vier Kindern und sagt, wenn der Krieg nicht wäre, hätte er schon sieben.

 

In den nächsten Tagen sind alle sehr produktiv und die ersten Matratzen nehmen Form an. Die Stoffe leuchten in dem deutschen Wintergrau. Es wird die Idee geboren, die Knöpfe, die jede Matratze braucht, um ihre Füllung in Form zu halten, mit dem Wort ‚matrah‘ zu gestalten. Denn matrah ist das Schlüsselwort; die Verbindung von Idee und Realisation und die Verbindung von uns allen. Dazu wird das Wort auf Stoff gedruckt und die Knöpfe mit diesem Stoff bezogen. Doch vorerst werden Stich um Stich die Matratzen zusammen genäht. Tareq näht am schnellsten und ruft: „Daniel, super?“ Daniel bremst ihn mit schweizer Nüchternheit: „Super ist anders. Aber gut.“ Alle lachen. Dann ist es wieder still und konzentriert, man hört im wahrsten Sinne des Wortes keine Nadel fallen. In einer Pause sitzen Tareq, Zakaria und ich in der Küche. Ich interviewe Tareq, Zakaria übersetzt.

 

Tareq

Tareq ist dieses Jahr 40 geworden, er kommt aus Damaskus. Er ist gelernter Schneider und war in Syrien mit zwei Geschäften erfolgreicher Unternehmer. Er kann sowohl für Männer als auch für Frauen Maßkleidung anfertigen. In seinen zwei Läden gab es eine große Auswahl an Stoffen. Die Kunden haben entweder eigene Stoffe mitgebracht oder sich Stoffe ausgesucht. Sie haben in Musterbüchern gezeigt, welche Schnitte sie wollten und dann hat Tareq ihnen genäht, was sie wünschten. Ich habe Bilder von muslimischer Geschlechtertrennung im Kopf und will wissen, wie Tareq mit den Frauen umgegangen ist – schließlich ist es nicht einfach, Maß an einem Körper zu nehmen, den man nicht berühren darf. Zakaria demonstriert mit einem Faden an Daniel, wie das geht. Und sowohl er als auch Tareq sagen freundlich, aber doch etwas genervt, dass die Deutschen gern Klischees im Kopf haben, was die Rolle der Frau in Syrien anginge. Es gäbe natürlich Frauen, die lieber zu einer Schneiderin gingen. Es gäbe Frauen, die gingen mit ihren Männern zum Schneider. Es gäbe aber auch genug Frauen, die emanzipiert seien und alleine zu einem männlichen Schneider gingen. Damit haben wir das erste Vorurteil aus dem Weg geräumt, und das zweite folgt gleich: Tareq ist palästinensischer Syrer. Er erzählt, dass er das Nähen in der Firma eines Juden gelernt habe, nachdem er die Schule beendet hatte. Ich merke, wie oft bei mir kleine Alarmglocken läuten, aber auch hier erzählt Tareq selbstverständlich und gelassen.

Seine Eltern haben 1947 Palästina verlassen und sind nach Syrien gezogen. Er ist in Damaskus in einer Gegend aufgewachsen, wo Menschen verschiedener Religionen, Christen, Juden, Moslems, gemeinsam gelebt haben. Er hat viele Jahre in der jüdischen Firma gearbeitet, bevor er sich selbständig gemacht hat. 2015 ist er mit seiner Frau und seinen Kindern, die elf, neun, sieben und drei Jahre alt sind, nach Deutschland gekommen. Das heißt, erst ist er alleine losgegangen. Der Weg war lang und kompliziert und führte über den Sudan und Libyen. Er hat zehn Tage in der Wüste verbracht und ist dann von Libyen nach Italien übers Meer gefahren, erst mit einem sehr unsicheren Boot, dann mit einem besseren. Die Familie konnte später glücklicherweise mit dem Flugzeug kommen. Jetzt leben sie in Friedenau. Tareqs Ziel ist es, eines Tages, wenn er genug Deutsch spricht, in Berlin ein Geschäft zu eröffnen.

 

Zurück zum Projekt:

Die Matratzen sind so weit genäht, dass nur noch die Knöpfe eingearbeitet werden müssen. Am Ende des Tages sitzen wir in der Küche und haben ein kollektives Gefühl von „Erfüllung“, jeder ist stolz auf sein Werkstück.

Am Anfang sind alle nach der Arbeit schnell nachhause gegangen, jetzt lassen wir den Tag zusammen ausklingen – natürlich ohne Feierabendbier, aber mit großen Mengen von Wasser, Tee und Kaffee. Wir beschließen, das Fest für die Präsentation der Matratzen hier im Schöneberger Zimmer zu veranstalten. Die Werkstattwohnung ist jetzt so etwas wie der Heimatort des Projekts geworden. Hier werden die Matratzen gefertigt, hier kommen wir zusammen und hier werden wir den Abschluß feiern – und auch das, was sich aus dem projekt matrah heraus entwickeln mag.